Momente
des Abtauchens – Visionen der Entgrenzung
Eröffnungsrede
von Gabrielle Obrist, Kunsthistorikerin
«austiefen»
betiteln Ursula Bohren Magoni und Claudio Magoni ihre Ausstellung; «austiefen»
heisst die Installation, welche die Chelsea
Galerie für 6 Wochen zu einem begehbaren Unterwasser-Kabinett werden
lässt; «austiefen» bezeichnen die beiden Künstler ihre Intention, mit
ihren Bildern aus tiefen Wassern die Seherfahrung zu weiten.
Wenngleich das Wörterbuch die Existenz einer solchen Tätigkeit –
sprich «austiefen» – verneint, vermag diese ‚magonische’
Wortschöpfung eine ganze Reihe von Assoziationen auszulösen: Eintauchen
in Unbekanntes, sich versenken in die Schönheit eines Augenblicks oder
sich treiben lassen, um physischer Beengung zu entrinnen.
Auf
Tauchgang
Aus einem Nichts auftauchend, vor undurchdringbarer Finsternis gleiten
sie lautlos dahin, Nesseltiere – Wesen von berückender Schönheit.
Scheinbar materielos schimmern sie wie Lichtblasen, sind von zauberhafter
Zartheit und wirken in ihrer Transparenz als aus der Zeit herausgetretene
Kreaturen. Das Kamera-Auge hat diese Medusen in den Tiefen des Wassers,
den Gründen der Evolution eingefangen und in ihrer oszillierenden Voluminosität
zu Papier gebracht. Das spannungsreiche Wechselspiel von Form und Raum
sowie das Kontrastieren von Hell und Dunkel entfalten in den Bildern der
Quallen einen faszinierenden Nuancenreichtum.
Wandeln
im Unterwasser-Hain
Baumwipfeln gleich wiegen sich die Tentakel der Seeanemonen im sachten
Wellengang, rhythmisiert im Stakkato der photographisch gespeicherten
Anblicke. Zum tiefblauen Panorama gefügt, erschliesst der Bilderreigen
dem defilierenden Betrachter die Choreographie amorpher Expansion, pulsierender
Vitalität oder abrupter Ballung des Organischen. Geheimnisvoll huldigt
die Unschärfe der Aufnahmen dem Fluidum der Riff-Landschaft und weckt
die Erinnerung an diffuse Traumgesichte – so entrückt wie die vielbesungene
Suche nach der ‚blauen Blume’, dem Sinnbild romantischer Sehnsucht
nach der Aufhebung aller irdischen Begrenzung.
Wunder
«Diese Farbe macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche
Wirkung», sinniert Wolfgang von Goethe in seiner Farbenlehre. Er bezeichnet
Blau als eine Energie, lokalisiert diese indes auf der negativen Seite
und fährt fort: «sie ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes
Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick». Kaum
konziser als mit Goethes Betrachtungen lässt sich die Qualität dieser
absoluten Bläue in Worte fassen. Bodenlos und zerfliessend dehnt sie sich
im Gesichtsfeld des Visavis aus. Einer gegenständlichen Zuordnung entfremdet,
zeugt sie von sphärischer Dimension, in solch kostbarem Leuchten dem blauen
Glas gotischer Kathedralen vergleichbar.
Diese Steigerung von Wasser zu einem ätherischen, lichtdurchfluteten Mirakel
möchte man zur Illustration eines Postulates von Paul Klee heranziehen,
welches er 1908 in sein Tagebuch notierte. Er fordert:
«Reduktion!
Man will mehr sagen als die Natur und macht den unmöglichen Fehler, es
mit mehr Mitteln sagen zu wollen als sie, anstatt mit weniger Mitteln.
Das Licht und die rationellen Formen liegen im Kampf, das Licht bringt
sie in Bewegung biegt gerade, ovalisiert parallele, dreht Kreise in die
Zwischenräume, macht den Zwischenraum aktiv. Daher die unerschöpfliche
Mannigfaltigkeit.»
Den
gelungenen Einsatz der angemahnten «weniger Mitteln» demonstriert in Bohren/
Magonis Werken insbesondere die gänzlich entgrenzte photographische Versenkung
in die Öde eines unbelebten Meeresraumes, wo die Topographie des Grundes
eine Vision von Unendlichkeit darbietet. Die verschwommene Wiedergabe
des Aquariums-Sandes löst den Bezug zum eindeutig Konkreten auf und evoziert
so die von Klee gepriesene «unerschöpfliche Mannigfaltigkeit».
Sphärenwechsel
Zu einem geradezu körperlichen Eintauchen in ein virtuelles Unterwasserreich
lädt die Video-Installation «austiefen», Angelpunkt und Fokus der ganzen
Ausstellung. Ausgangspunkt bildet die ruhige, leer belassene Ecke gegenüber
mit Einblick in den von aussen nur fragmentarisch wahrnehmbaren Erlebnisort.
Schmal beschaffen ist sie, die Öffnung zum Durchgang, einer Schleuse vergleichbar.
Ein Korridor, zweieinhalb Meter hoch und mit 50 cm nur gerade körperbreit,
lenkt den Schritt hin zur räumlich-visuellen Entdeckung. Der Couloir bewirkt
durch seine Länge von neun Metern und die optische Verengung einen Sog
– irritierend hallt der Klang der eigenen Schritte beim Gang durch
diesen Erschliessungskanal.
Ein Sphärenwechsel wird beim Betreten dieses Raumes erlebbar. Ein Sphärenwechsel
stellt sich ein, wenn die überdimensionierten Schatten der Betrachterinnen
und Betrachter beim Durchschreiten der Installation auf die Projektionsfläche
geworfen werden und den Fisch überlagern. Für Aussenstehende interessant
zu beobachten ist ausserdem der sprunghafte Wechsel von körperlicher Gegenwart
eines Eintretenden zur entmaterialisierten Silhouette, welche sich unvorhersehbar
abzeichnet oder entzieht.
Schliesslich im Tiefenraum angelangt, findet man sich Aug’ in Aug’
mit einer aussergewöhnlichen Kreatur. Ein schwarzes Blicken ohne Iris
und Lidschlag, ein gebanntes Schauen, umstrahlt von irisierenden Lichtreflexen,
gleitet mit dem nur ausschnitthaft erkennbaren Körper langsam durch das
dunkle Nass.
Beim Erkunden der Exponate von Ursula Bohren Magoni und Claudio Magoni
wird das Augenmerk auf das Erfahren aussergewöhnlicher Räume gelenkt,
der Blick kann vordringen in verborgene Strukturen des Lebendigen. Das
Betrachten der sorgfältig zusammengestellten und inszenierten Kunstwerke
gerät zu einem sinnlichen‚ unterseeischen’ Erkundungsgang.
Stille Poesie offenbart sich beim Ausloten solch ‚wässriger’
Gefilde. |